Titel
Minorities in Greece. Historical Issues and New Perspectives


Herausgeber
Trubeta, Sevasti; Voss, Christian
Reihe
Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas 5
Erschienen
Anzahl Seiten
219 S.
Preis
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Adamantios Skordos, Zentrum für Höhere Studien, Universität Leipzig

Anfang der 1990er-Jahre wurde Griechenland von einer nationalistischen Welle erfasst, die in der neueren Geschichte des Landes an Intensität und Dauer einmalig war. Neben der Staatswerdung der benachbarten Republik Makedonien, der angeblichen Zunahme des politischen, ökonomischen und militärischen Einflusses der Türkei auf dem Balkan und den Spannungen im Verhältnis zu Albanien und Bulgarien waren es vor allem das im Ausland wachsende Interesse an den in den nördlichen Grenzregionen Griechenlands lebenden Minderheiten sowie die Mobilisierung von muslimischen und makedonischen Aktivisten im Inland, die eine Massenhysterie bei politischer Klasse, Kirche, Intellektuellen und Medien auslöste. Nicht zum ersten Mal deutete man in der griechischen Öffentlichkeit das Aufkommen der Minderheitenproblematik als Zeichen für eine international angelegte „anti-hellenische Verschwörung“, die als vorrangiges Ziel die „geographische, kulturelle und phyletische Dezimierung“ des Griechentums habe.1 Diese durch Misstrauen und Besorgnis geprägte Reaktion der griechischen Gesellschaft ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen staatlichen Minderheitenpolitik, die das religiös, sprachlich und ethnisch Andere leugnete wie unterdrückte, einen nationalen Homogenisierungsprozess rigide vorantrieb und jede wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Vorhandensein der in Griechenland lebenden Minderheiten entmutigte. Dementsprechend konstatieren die Gründungsmitglieder des nicht-staatlichen griechischen „Forschungszentrums für Minderheitengruppen“ (KEMO), Dimitris Christopoulos und Konstantinos Tsitselikis, dass die bis Mitte der 1990er-Jahre in Griechenland betriebene Minderheitenforschung - falls sie sich überhaupt vom „Pakt des Schweigens und Desinteresses“ löste – entweder „d[ie] herrschende[…] Nationalideologie rechtfertigend“ stützte oder „methodologisch unwissenschaftlich“ vorging.2

Ab 1997, nach dem Scheitern der Nichtanerkennungspolitik gegenüber Makedonien, begann man in Griechenland die fatalen Auswirkungen der jahrelangen Tabuisierung von Minderheitenfragen zu erkennen. Insbesondere die Lockerung der staatlichen Minderheitenpolitik, die jetzt auch den Zugang zu Archivquellen sowie den Kontakt mit Minderheitenangehörigen öffnete, und das rasant anwachsende Interesse von einheimischen und ausländischen (Nachwuchs-) Wissenschaftlern für die Grauzonen griechischen nation-buildings ermöglichten diese historiographische, aber auch sozial-, rechts- und sprachwissenschaftliche Lücke zu verkleinern. Dazu leistete eine von Sevasti Trubeta und Christian Voss Anfang 2003 in Berlin durchgeführte Tagung zum Thema „Minorities in Greece – Historical Issues and New Perspectives“ einen wichtigen Beitrag.3 In mehrerlei Hinsicht stellt der aus dieser Tagung hervorgegangene Themenband einen Meilenstein in der griechischen Minderheitenforschung dar: Das Sammelwerk ist nicht nur die bis jetzt am breitesten interdisziplinär angelegte Arbeit – sie umfasst Beiträge aus den Bereichen der Geschichtswissenschaft, der Bildungssoziologie, der Sozialanthropologie, der Rechtswissenschaften und der Soziolinguistik –, sondern auch eine der wenigen Unternehmungen, bei der griechische sowie ausländische Wissenschaftlern zusammengewirkt haben. Zugleich kombiniert der Band erstmals Forschungen zu „alten“ bzw. autochthonen nationalen Minderheiten mit solchen zu „neuen“, wie sie durch den Fall der kommunistischen Regime Osteuropas und massenhafte Arbeitsimmigration entstanden sind. Hervorzuheben ist überdies die Absicht der Herausgeber, die griechische Minderheitenfrage sowohl in einen interbalkanischen Kontext zu stellen als auch den dynamischen Prozess von Ethnisierung und Minorisierung in Griechenland unter theoretischen Konzepten der Minderheitenforschung zu betrachten.

Dieser letzteren Absicht ist der erste Teil „Minorities in the Balkan Context” der insgesamt fünf Themenblöcke des Sammelwerkes gewidmet. Der Beitrag von Peter Haslinger „Minorities and Territories – Ways to Conceptualize Identification and Group Cohesion in Greece and in the Balkans” (S. 15-26) legt die Rolle des Raumes bei der Genesis von Minderheiten auf dem Balkan fest, indem drei verschiedene Konzepte präsentiert und auf südosteuropäische Fallbeispiele übertragen werden: imagined territory, ethnoscapes und triadic nexus. Besonders das Modell des imagined territory, das sich auf die Nationalisierung von Raum bezieht, kann als ein Muster für die Interpretation von älteren wie neueren ethnoterritorialen Konflikten auf dem Balkan dienen. Haslinger skizziert, wie nationale Diskurse bestimmte Raumkonzepte hervorbringen, wobei Landschaften mittels historischer, ethnologischer, politischer und ökonomischer Argumente als für die eigene Nation „unentbehrliche Lebensräume“ beansprucht werden. Dabei nehmen die rivalisierenden Nationalismen eine „mehr oder weniger beliebige Klassifizierung“ der innerhalb von umkämpften Territorien lebenden Bevölkerungsgruppen bzw. Minderheiten vor. (S. 18)

Der Aufsatz von Christian Promitzer „The Body of the Other: Racial Science and Ethnic Minorities in the Balkans” (S. 27-40) knüpft an den von Haslinger thematisch an. Der Grazer Historiker demonstriert hauptsächlich am serbischen, partiell auch am jugoslawischen, bulgarischen, rumänischen und griechischen Fall, dass die ursprünglich in Westeuropa entwickelte Rassenkunde von balkanischen Wissenschaftlern übernommen wurde – mit dem Ziel der Erweiterung nationalen Territoriums bzw. des Schutzes vor irredentistischen Absichten der Nachbarstaaten. Am Beispiel des bulgarischen Kinderarztes Stefan Vatev, des serbischen Ethnologen Tihomir Dordevic, des slowenischen Anthropologen Niko Zupanic und anderer demonstriert er die augenfällige Politisierung von Ethnographie, Ethnologie und Anthropologie im Südosteuropa des frühen 20. Jahrhunderts. So trugen diese Disziplinen zur Inklusion bzw. Exklusion von Minderheiten, zur Klassifizierung der jeweils eigenen Nation als „rassisch dominierend“ oder sogar zur Neuentstehung von Nationen (Jugoslawien) bei. Stützten sich diese Arbeiten der ersten Generation vorwiegend auf ethnographische Erhebungen, so wurden diejenigen der Zwischenkriegszeit durch die biologische Anthropologie ergänzt. Obgleich der Holocaust und die Errichtung von kommunistischen Regimen im Prinzip das Ende für rassenanthropologische Studien in Bulgarien, Jugoslawien und Rumänien bedeuteten, zeigte man sich in Griechenland von den fatalen Folgen, aber auch von der politischen Ineffizienz der Rassenkunde unbeeindruckt und übernahm mit den Anthropologen Aris Poulianos und Nikolaos Xyrotyris diesbezüglich die Führungsrolle auf dem Balkan. Während der erste sich mit der phyletischen Herkunft der Griechen und der anderen Balkanvölker auseinandersetzte, „bewies“ Xyrotyris durch Blutproben die angebliche altthrakische Abstammung der Pomaken Griechenlands, also der Muslime südslawischer Zunge.

Eine Einführung in die griechische Minderheitenthematik erfolgt im zweiten Themenblock zu „State Politics”. Vemund Aarbakke versucht in seinem Beitrag „Adjusting to the New International Framework for Minority Protection – Challenges for the Greek State and its Minorities” (S. 43-54) durch einen historischen Rückblick auf die Entwicklung von griechischem Nationalismus und Athener Minderheitenpolitik die in den 1990er-Jahren aufkommenden Unstimmigkeiten zwischen Griechenland und der internationaler Gemeinschaft in Sachen Minderheitenschutz zu erklären. Der Autor skizziert die für den griechischen Staat nach der „verspäteten“ Inkorporation der nördlichen Regionen des Landes (Westthrakien und Makedonien) aufgetretenen Probleme bei der Integration bzw. Assimilation der neuen muslimischen und slavophonen Bürger in die christlich-orthodoxe und griechischsprachige Gesellschaft. Während die Muslime Westthrakiens von dem überwiegend auf die Orthodoxie gestützten griechischen Nationalismus als „hoffnungsloser Fall“ betrachtet wurden, sollten gerade die christlich-orthodoxen Slaven Makedoniens einen „Brückenkopf“ für die Expansionsbestrebungen Griechenlands in Richtung Norden darstellen. Aarbakke zufolge waren es der in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommende bulgarische Nationalismus, der die griechischen Aspirationen auf die Slaven Makedoniens in Frage stellte. Dies taten mit Blick auf die makedonischen Provinzen Griechenlands auch der bulgarische Revisionismus der Zwischenkriegszeit sowie vor allem die Unabhängigkeitsbewegung der slavomakedonischen Minderheit Griechenlands in den Besatzungs- und Bürgerkriegsjahren (1941-1949). Diese traumatischen Erfahrungen der griechischen Titularnation mit ihrer nach Eigenstaatlichkeit strebenden slavischen Minderheit – sei es unter der Ägide Mussolinis, Hitlers oder Titos – führten letztendlich zu einer aus westlicher Perspektive unverständlichen Aversion von Staat und Gesellschaft in Griechenland gegen internationale Minderheitenrechtsstandards.

Tasos Kostopoulos, Publizist und Mitglied der Journalistengruppe Ios, bietet in seinem Aufsatz „Counting the Other: Official Census and Classified Statistics in Greece (1830-2001)” (S. 55-78) eine spannende Gegenüberstellung von offiziellen, semi-offiziellen und nicht-staatlichen Bevölkerungsstatistiken Griechenlands. Der Verfasser, der sich nicht nur auf freigegebenes, sondern gerade auch auf „streng vertrauliches“ Behördenmaterial beziehen kann, skizziert zum einen das große Interesse von Militär, Geheimpolizei, lokalen Behörden und Kirche für die religiöse und ethnolinguistische Zusammensetzung des Landes. Zum anderen stellt er beträchtliche Manipulationen der tatsächlichen Anzahl von Minderheitenangehörigen sowohl in den bis 1951 mit Aussagen zur sprachlichen und religiösen Diversität versehenen offiziellen Statistiken als auch in stark ideologisierten Arbeiten griechischer Wissenschaftler fest. Laut Kostopoulos habe die Korrektur der Zahlen nach unten nicht alle Minderheitengruppen im gleichen Maße betroffen: So waren etwa die Angaben bezüglich der Muslime Westthrakiens und der muslimischen Çam-Albaner des Epirus realitätsnah, während die Gruppen der ungefragt in die griechische Nation inkorporierten ostromanischsprachigen Aromunen und der Arvaniten, das heißt Christen albanischer Zunge, in allen Volkszählungsveröffentlichungen konstant unterrepräsentiert dargestellt wurden. Noch interessanter ist der Fall der Slavophonen im griechischen Makedonien, die nicht nur in den offiziellen Statistiken numerisch herabgesetzt, sondern gleichzeitig inoffiziell in drei Kategorien klassifiziert wurden: a) Voulgarizontes (Slavophone „bulgarischer Gesinnung“), b) xenofonoi Ellines (fremdsprachige Griechen) und c) refstosyneiditoi (Slavophone „unbeständigen Nationalbewusstseins“).

Der dritte Themenblock des Bandes „Muslims, New and Old Minorities” setzt sich aus vier Beiträgen zusammen, wobei die ersten zwei neben der Berücksichtigung der „autochthonen“ Muslime Westthrakiens ihre Untersuchungsindikatoren Recht und Religion auf die „neuen“ Minderheiten der Arbeitsimmigranten innovativ ausweiten. Dimitris Christopoulos und Konstantinos Tsitselikis thematisieren in ihrem Aufsatz „Impasses in the Treatment of Minorities and homogeneis in Greece” (S. 81-93) die starke Ideologisierung der griechischen Rechtslandschaft bezüglich Minderheitenfragen. Die national „korrekte“ Linie findet sich in einer Reihe von Gesetzen und deren Auslegung griechischer Gerichtsinstanzen nieder. Als krasse Beispiele für den „ideologischen Gebrauch von Gesetzen“ (S. 87) erwähnen die beiden Juristen den berüchtigten und mittlerweile außer Kraft gesetzten Artikel 19 des griechischen Staatsbürgerschaftsgesetzes, der den Begriff „Staatsangehörige nicht-griechischer Abstammung“ einführte, sowie das Repatriierungsgesetz von 1982, das Bürgerkriegsflüchtlingen die Rückkehr in die Heimat ermöglichte, vorausgesetzt sie sind „griechischer Abstammung“, also keine ethnischen Makedonier. Noch interessanter ist dabei ihre Feststellung, dass in all diesen Fällen das Kriterium der „Abstammung“ nach dem Vorbild der „französischen Schule“ eine subjektive Anwendung fand, d. h. mit „Nationalbewusstsein“ gleichgesetzt wurde. Die Autoren zeigen außerdem, wie im 20. Jahrhundert das in der Verfassung verankerte Konzept der homogeneis (Gleichstämmigen) zur Aufrechterhaltung der Beziehungen des Mutterlandes mit der griechischen Diaspora und somit auch bei der Begründung territorialer Forderungen Griechenlands eingesetzt wurde. Allerdings stürzte der anfangs der 1990er-Jahre erfolgte Massenzustrom von Arbeitsmigranten aus dem GUS-Bereich sowie vor allem von sich mehrheitlich als homogeneis ausgebenden Albanern aus Albanien das Konzept in eine möglicherweise lethale Krise.

Die Berliner Sozialwissenschaftlerin Sevasti Trubeta analysiert in ihrer vergleichenden Untersuchung „Minorisation and Ethnicisation in Greek Society: Comparative Perspectives on Muslim Immigrants and the Thracian Muslim Minority” (S. 95-112) die Rolle der Religion bei dem Minorisierungs- und Ethnisierungsprozess der westthrakischen Muslime einerseits und der muslimischen Arbeitsimmigranten andererseits. Im Falle der autochthonen Muslime Westthrakiens erkennt die Autorin eine Ethnisierung via Religion, wobei die Hervorhebung der religiösen Diversität der betreffenden Gruppe als ein politisches Manöver Athens zur Einschränkung des nationaltürkischen Charakters der Minderheit zu interpretieren ist. Im Gegensatz dazu sieht Trubeta zwischen der politischen, ökonomischen und sozialen Marginalisierung muslimischer Imigranten aus Afrika und Asien und ihres nicht griechisch-orthodoxen Glaubensbekenntnisses keinen direkten Zusammenhang. Für ihre Minorisierung macht Trubeta vorwiegend „pragmatische“ Faktoren verantwortlich, wie z.B. die Tatsache, dass die letztgenannten nicht über die griechische bzw. eine andere europäische Staatsangehörigkeit verfügen. Ebenfalls sei die Exklusion von muslimischen Immigranten aus dem Balkan – dabei handelt es sich hauptsächlich um Albaner – nicht ihrem „säkularen“ Islam, sondern einer Reihe in der griechischen Gesellschaft verwurzelter Stereotypen bezüglich ihrer „Illegalität“ und „Kriminalität“ zuzuschreiben.

Der Aufsatz von Giorgos Mavrommatis „Constructing Identities for Thracian Muslim Youth: The Role of Education” (S. 113-123) konzentriert sich auf das durch den Lausanner Vertrag von 1923 institutionalisierte Bildungswesen für die muslimische Minderheit Westthrakiens. Der historische Rückblick auf die Entwicklung des Minderheitenschulsystems macht noch einmal deutlich, dass sich die Politik Athens gegenüber seiner einzigen anerkannten Minderheit dem konfliktreichen Verhältnis Griechenlands zu Bulgarien und vor allem zur Türkei unterwarf. Infolgedessen stellt Mavrommatis gravierende Schwächen bei den muslimischen Schülern fest, die eine „relativ niedrige“ Sprachkompetenz im Türkischen und „erhebliche Lücken“ in ihren Griechischkenntnissen aufweisen.

Die Berliner Ethnologin und Südosteuropahistorikerin Georgia Kretsi demonstriert am Beispiel der albanischsprachigen Muslime des Epirus, wie soziale Minorisierungsprozesse ethnischer Gruppen mit „alltäglichen“ Problemen ökonomischer Art eng verflochten sein können. Basierend auf der Korrespondenz lokaler Behörden und des griechischen Außenministeriums dokumentiert die Autorin in ihrem Essay „From Landholding to Landlessness. The Relationship between the Property and Legal Status of the Cham Muslim Albanians” (S. 125-138) eine während der Zwischenkriegszeit seitens der griechisch-orthodoxen Mehrheit intensiv vorangetriebene Ideologisierung bzw. Ethnisierung der Çam-Albaner mit dem ausschließlichen Ziel, sie – wenn auch verspätet – in die griechisch-türkische Zwangsumsiedlung einzubeziehen, d. h. auszusiedeln – bei gleichzeitiger Enteignung, um dadurch die Unterbringungsprobleme der kleinasiatischen Griechen zu bewältigen.

Der äußerst kontroverse und infolge des griechisch-makedonischen Namenstreits stark politisierte Fall der Slavophonen bzw. Slavomakedonier bzw. Makedonier des griechischen Makedonien wird im vierten Themenblock in vier hochkarätigen Beiträgen aus geschichtspolitischer (Philip Carabott), anthropologischer (Claudia Rossini), soziolinguistischer (Christian Voss) und sozialhistorischer (Riki van Boeschoten) Perspektive beleuchtet. Philip Carabott befasst sich in seinem Essay „The Politics of Constructing the Ethnic ‘Other’: The Greek State and its Slav-Speaking Citizens, ca. 1912 - ca. 1949” (S. 141-159) mit der griechischen Minderheitenpolitik gegenüber den slavischsprachigen Bürgern Ägäisch-Makedoniens in der kritischen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und zwar sowohl auf regionaler als auch auf zentralstaatlicher Ebene. Der Londoner Neuzeithistoriker, der auf umfangreiche Quellenrecherchen in staatlichen und privaten Archiven Griechenlands zurückgreifen kann, beschreibt einerseits die in der staatlichen Verwaltung allgemein verbreitete Perzeption vom „slavischsprachigen Element“ als einer potentielle Bedrohung für die Sicherheit des Landes. Andererseits dokumentiert er bis zur Errichtung der Metaxas-Diktatur 1936 große Unstimmigkeiten zwischen den Athener Regierungen, die sich in einer Verdrängungs- und Selbstüberzeugungstherapie mit dem „moderaten“ Konzept des Vorhandenseins „slavophoner Griechen“ zufrieden gaben, und den lokalen Behörden, die eine Hardliner-Politik bis zur totalen Hellenisierung und damit Entslavisierung Makedoniens vorantreiben wollten.

In Gegensatz zu Carabotts Artikel, der sich auf die Vergangenheit bezieht, setzen sich die nächsten zwei Beiträge von Claudia Rossini und Christian Voss mit der gegenwärtigen Situation der slavischsprachigen Bürger des griechischen Makedonien auseinander. Rossinis Artikel „Graecophiles and Macedonophiles: Greek Macedonia’s Slavic-Speakers, the Minority Identity Question and the Clash of Identities at Village Level” (S. 161-172) geht der Frage nach, was der Kern des derzeitigen Minderheitenkonflikts in Ägäisch-Makedonien ist, welche Identitätskonzeptionen unter den Slavophonen des griechischen Makedonien verbreitet sind und was für einen Einfluss die konkurrierenden Akteure auf den Makroebenen von griechischem Nationalismus und internationalen Menschenrechtsorganisationen darauf ausüben. Die Anthropologin, die in Meliti, einem der größten slavophonen Dörfer der westmakedonischen Präfektur Florina Feldforschungen betrieben hat, macht sichtbar, dass heutzutage die makedonische Minderheitenfrage in Griechenland nicht einen – wie häufig angenommen – ethnolinguistischen, sondern eher politischen Hintergrund hat: Während ein Teil der Slavophonen eine gegenüber dem griechischen Staat auf sozioökonomischen Grundlagen basierende Loyalität aufweist und dementsprechend jede Minderheitendiskussion kategorisch ablehnt („Graecophiles“), beanspruchen die „Macedonophiles“ das Recht auf Selbstbestimmung, sodass sie ihre besondere regional-makedonische Identität ausleben können.

Der Beitrag von Christian Voss „The Situation of the Slavic-Speaking Minority in Greek Macedonia – Ethnic Revival, Cross-Border Cohesion, or language Death?” (S. 173-187) bezieht sich gleichfalls auf das seit Anfang der 1990er-Jahre revitalisierte makedonische Bewusstsein bei den Slavophonen des griechischen Makedonien, wobei er die sprachliche Komponente besonders berücksichtigt. Gleich Rossini stellt der Freiburger Slavist fest, dass die moderne makedonische Identitätsvariante, die im Zuge der nachdiktatorischen Liberalisierung Griechenlands und der EU-Mitgliedschaft des Landes einen gewissen Freiraum zur Entfaltung fand, sich vorwiegend durch „lokale, anti-zentralistische und anti-rassistische“ Töne auszeichnet (S.175). Allerdings habe sich, so Voss, in den letzten Jahren nur bei einigen wenigen Slavophonen der Region Florina ein dezidiert national-makedonisches Bewusstsein entwickelt, was sowohl auf den grenzüberschreitenden Einfluss der Republik Makedonien als auch auf den der makedonischen Diaspora in Kanada, Australien und anderswo zurückzuführen sei. Die zunehmende Resonanz, die die makedonische Identität – sei es auf regionaler oder nationaler Ebene – unter den Slavophonen gewinnt, macht sich unter anderem in der Wiederbelebung der slavomakedonischen Dialekte im westmakedonischen Griechenland sichtbar. Christian Voss sorgt allerdings für Überraschung, wenn er die Kodifizierung dieser Dialekte mittels des griechischen Alphabets und der Berücksichtigung bzw. Einbeziehung griechischen Vokabulars vorschlägt. Dies deshalb, weil er ähnliche Versuche im Falle des Pomakischen vorwiegend wegen ihres graekozentrischen Charakters kategorisch ablehnte.4

Der Aufsatz der an der Universität Volos lehrenden niederländischen Ethnologin Riki van Boeschoten „Unity and Brotherhood? Macedonian Political Refugees in Eastern Europe” (S. 189–202) behandelt das sowohl von der nationalistischen als auch von der kommunistischen Geschichtsschreibung Griechenlands vernachlässigte Thema der Beziehungen zwischen griechischen und makedonischen Bürgerkriegsflüchtlingen in den Ostblockstaaten. Die Autorin, die zu den repräsentativsten Vertreterinnen einer neueren entideologisierten Sozialwissenschaftlergemeinschaft Griechenlands gehört, schildert anhand autobiographischer Werke von Exilmakedoniern eine durch die paternalistischen Aufnahmestaaten und die Organe der Kommunistischen Partei Griechenlands ins Detail geregelte Symbiose. Innerhalb dieses engen Rahmens hatten gegenüber nationalen Kategorisierungen der Aufruf nach „Brüderschaft und Einigkeit“ im Kampf gegen den griechischen „Monarcho-Faschismus“ sowie die Pflicht als „sozialistische Arbeiter dem internationalen Kommunismus“ zu dienen, absoluten Vorrang. Ebenfalls von oben wurde eine makedonische Kulturpolitik institutionalisiert, die eine vehement anti-jugoslawische bzw. pro-bulgarische Ausrichtung annahm. Dieser angeordneten „Harmonie“ im Verhältnis zwischen Griechen und Makedoniern setzten das griechische Repatriierungsgesetz von 1982, das zwischen „ethnischen Griechen“ und „ethnischen Makedoniern“ diskriminierte, sowie der seit Ende der 1980er-Jahre immer enger werdende Kontakt zwischen Makedoniern der kommunistischen bzw. ex-kommunistischen Ländern Europas und denjenigen der Überseediaspora ein Ende.

Der abschließende Beitrag von Thede Kahl „Aromanians in Greece: Minority or Vlach-Speaking Greeks” (S. 205-219) im fünften Themenblock gewährt zum einen Einsicht in die historische Entwicklung der Aromunischen Frage auf dem Balkan, zum anderen beleuchtet er die heutige Identitäts- und Sprachsituation der auch Vlachen genannten Aromunen Griechenlands. Gleichzeitig regt seine umfassende und gut strukturierte Analyse zu einer komparatistischen Gegenüberstellung mit dem slavomakedonischen Fall an. Insbesondere bietet sich dem Leser durch die vier letzten Makedonien-Beiträge und diesen Aufsatz des Wiener Ethnogeographen die Möglichkeit, ein tieferes Verständnis für den griechischen Nationbildungsprozess zu gewinnen, indem die von Slavomakedoniern und Aromunen innerhalb des griechischen Nationalismus hin und wieder parallel, aber auch öfters auseinander gehenden Integrations- bzw. Assimilierungswege verglichen werden können. Neben der Tatsache, dass beide ethnolinguistische Gruppen während der osmanischen Periode dem christlichen millet angehörten und dadurch dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel administrativ unterstellt waren, setzten sich während der griechischen Befreiungskriege und des sogenannten „Makedonischen Kampfes“ von 1903-1908 zahlreiche Slavophone sowie Aromunen für die nationalen Rechte des Hellenismus ein. Gleichfalls bildeten sich sowohl bei den Makedoniern als auch bei den Aromunen ethnische bzw. nationale Gegenpole, die sich entweder anderen konkurrierenden Nationalideologien – bulgarischen bzw. rumänischen – unterordneten oder eine eigenständige Nationalbewegung unterstützten. Dennoch blieb der Einfluss der „aromunisch-rumänischen“ Strömung (S. 209) auf die Aromunen Griechenlands eher begrenzt. Und anders als die entsprechende „makedonisch-bulgarische“ Bewegung bereitete sie der griechischen Homogenisierungspolitik keine ernsthaften Sorgen. Die Gründe dafür sind Kahl zufolge vor allem in der „ökonomischen Überlegenheit“ (S. 211) der städtischen Aromunen zu finden, die zwar nicht an einer selbständigen Nationalbewegung partizipierten, dafür aber umso mehr die anderen Nationalismen – und insbesondere den griechischen – mitgestalteten. Dem wäre sicherlich die von Christian Voss in seinem Tagungsbericht gemachte Feststellung hinzuzufügen, dass es im Gegensatz zu den als typische Grenzminderheit einer „unerbittlichen nationalen Bipolarität“ ausgesetzten Slavophonen, den aromunischen „weitverstreuten Inselsprachgruppen“ wesentlich leichter fiel, in der griechische Mehrheit unterzutauchen.5 Kahl skizziert für die Gegenwart eine weitgehende „nationale Identifikation der meisten Aromunen mit dem modernen Hellenismus“ (S. 219) und eine intensive Förderung der aromunischen Folklore bei gleichzeitig starker Abneigung gegen die institutionalisierte Pflege ihrer Sprache und jegliche Minderheitendiskussion. Hier wiederum liegen die Ähnlichkeiten zu den slavischsprachigen „Graecophiles” Rossinis auf der Hand.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass das in der Einführung gesetzte Ziel der Herausgeber, „durch eine historische, soziologische, sozialanthropologische, rechtswissenschaftliche, geographische und soziolinguistische Perspektive den jetzigen Stand der Minderheitenforschung zu spiegeln und die aktuellen Forschungsergebnisse interdisziplinär zu systematisieren“ (S. 10), zu einem Großteil erreicht wurde. Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass dieser Band einen entideologisierten und entpolitisierten Forschungsstand widerspiegelt, wie er in Griechenland mittlerweile zwar an außeruniversitären sowie nicht-staatlichen Forschungseinrichtungen – wie etwas dem genannten KEMO –, nicht hingegen an staatlichen Universitäten und Instituten anzutreffen ist. Die auffällige Unterrepräsentation von Vertretern griechischer Universitäten oder auch anderen staatlichen Institutionen, so etwa des autoritativen Institute for Balkan Studies in Thessaloniki, in diesem Sammelwerk geht mitnichten auf eine selektive Einladungspolitik der Herausgeber zurück, sondern resultiert aus der Tatsache, dass sich die Minderheitenforschung im Griechenland des 21. Jahrhunderts noch keineswegs gegenüber dem traditionellen bzw. nationalistischen Mainstream innerhalb der offiziellen Einrichtungen durchsetzten konnte.

Anmerkungen:
1 Vgl. z. B. Papathemelis, Stelios, Antepithesi. Protaseis gia ta ethnika mas themata [Gegenangriff. Vorschläge für unsere nationalen Themen], Thessaloniki 1992; Sotiriou, Stefanos, Meionotites kai Alytrotismos [Minderheiten und Irredentismus], Athen 1991; Lygeros, Stavros, Skopia. To agkathi tis walkanikis [Skopje. Dorn des Balkans], Athen 1992.
2 Tsiteslikis, Konstantiono; Christopoulos, Dimitris, Prologos ton epimeliton [Vorwort der Herausgeber], in: dies. (Hrsg.), To meionotiki phainomeno stin Ellada. Mia symwoli ton koinonikon epistimon [Das Minderheitenphänomen in Griechenland. Der Beitrag der Sozialwissenschaften], Athen 1997, S. 9-10.
3 Siehe dazu Voss, Christian: Tagungsbericht „Minorities in Greece – historical issues and new perspectives”, in: H-Soz-u-Kult vom 19. 02. 2003 (URL http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=173).
4 Ioannidou, Alexandra; Voss, Christian, Kodifizierungsversuche des Pomakischen und ihre ethnopolitische Dimension, in: Die Welt der Slaven 46(2001), S. 233-247.
5 Vgl. Anmerk. 3.

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